Eine Reise nach Russland

17. August 2017 von Cornelia Kellermann

Da saßen mein Gefühlschaos und ich nun im Boardingbereich des Flughafens, abflugbereit ins Ungewisse nach Russland. Eine Reise, die fast noch verrückter und unbegreiflicher erschien, als die Knochenmarkspende selbst“ schreibt unsere Spenderin Carina Schiermeier vor ihrem Abflug nach Moskau: Sie folgte einer Einladung nach Moskau, die Empfängerin ihrer Spende kennenzulernen.

Carinas Bericht liest sich wie ein Tagebuch. Wir freuen uns, den ganzen Text ungekürzt online stellen zu dürfen:

Da saßen mein Gefühlschaos und ich nun im Boardingbereich des Münchner Flughafens, abflugbereit ins Ungewisse nach Russland. Eine Reise, die fast noch verrückter und unbegreiflicher erschien, als die Knochenmarkspende selbst. Ich glaube, die meisten Knochenmarkspender – inklusive deren Angehörigen und Freunde – sind neugierig. Neugierig darauf, ob die Transplantation erfolgreich war, wer der/die Empfänger/in ist und ob es Ähnlichkeiten zwischen Spender und Empfänger gibt. Doch bis diese Fragen überhaupt beantwortet werden, braucht es viel Geduld…

Im März 2014 erreichte mich das Anschreiben der AKB, dass ich möglicherweise als Knochenmarkspenderin in Frage kam, Ende Mai 2014 war es dann soweit und mir wurde in einem kurzen Eingriff Knochenmark entnommen. Es verging ein Monat, ein halbes Jahr, ein Jahr und immer wieder malte ich mir aus, wie es meiner Empfängerin wohl. Nach vereinzelten telefonischen Nachfragen bei der AKB, wurde ich im Juni 2016 über die erfolgreiche Transplantation informiert und dann ging alles richtig schnell…

Ich schrieb einen anonymen Brief, weitergeleitet von der AKB an meine Empfängerin. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Nach Unterzeichnung der Einverständniserklärung über die Weitergabe der persönlichen Daten konnte meine Knochenmarksempfängerin Kristina (22) und ich uns ab August 2016 ganz privat schreiben. Ich ohne russisch Kenntnisse, Kristina ohne deutsch Kenntnisse aber Dank Google Translation konnten wir auf Englisch miteinander kommunizieren. Normalerweise wäre aus russischer Sicht die Kontaktsperre erst nach drei Jahren mit beiderseitigem Einverständnis aufgehoben worden, da ich jedoch die Initiative ergriff, konnte es schon eher ermöglicht werden.

Wir haben uns fast jeden Tag geschrieben, viel erzählt und trotz unseres optisch vollkommen gegensätzlichen Erscheinungsbildes viele Gemeinsamkeiten entdeckt. Ende Oktober, zwei Monate später der absolute Wahnsinn: eine E-Mail der russischen Charity Organisation „Fund Fighting Against Leukemia“ (https://leikozu.net) mit einer Einladung nach Russland, um dort – unter Begleitung eines Kamerateams – Kristina zu treffen und ihre Familie und Freunde kennenzulernen.

Die Organisation engagiert sich für die finanzielle Unterstützung von Erwachsenen mit Leukämie, da die Kosten der Transplantation von den Patienten selbst getragen werden müssen. Bei Kindern sind die Spendenbereitschaft und das Mitgefühl sehr groß, wogegen leider Gottes diese bei erwachsenen Personen nach dem Motto „die sind ja schon erwachsen und können sich selbst helfen“ sehr eingeschränkt ist. Wird ein Spender in Russland selbst gefunden, beläuft sich die zu zahlende Summe auf circa 5 000 €. Kristina musste jedoch für ihre Spende aus Europa 30 000 € aufbringen, was nur durch finanzielle Unterstützung, vielen Spenden und einem Kredit möglich gemacht werden konnte. Sie ist froh, dass ich nicht aus Amerika komme!… Die Gehälter in Russland sind mit den unseren nicht einmal ansatzweise zu vergleichen, weshalb die Organisation sehr eng mit dem Fußballverein Spartak Moskau und namenhaften erfolgreichen nationalen und internationalen Künstlern zusammenarbeitet, um Spender zu akquirieren und das Thema Leukämie stärker in den Mittelpunkt zu drängen. Der gedrehte Werbe- und Imagefilm mit Kristina und mir soll ebenfalls einen Beitrag dazu leisten. Mit dem Verkauf von roten Mützen, wird ein Zeichen für den Kampf gegen Leukämie gesetzt, Spendengelder gesammelt, den Leukämiepatienten die Phase während der Chemotherapie erleichtert und dem kalten russischem Winter getrotzt.

Nach großer Ungewissheit und dem Zittern ein Visum zu erhalten ging es dann vom 02.12 – 09.12.2016 ins wunderschöne, eiskalte und schneeweiße Russland, genauer Moskau und Nizhny Novgorod. Kristina holte mich mit ihrem Mann Dima (24) und einem Kameramann vom Flughafen ab und nach einer herzerwärmenden Begrüßung und vielen Umarmungen ging es dann in ihre Wohnung nach Moskau. Das größte Problem, was ich im Schriftverkehr via Facebook und E-Mails nicht erkennen konnte: Kristina und ihr Mann konnten kaum ein Wort English sprechen. Wie auch, es wird zwar Englisch in der Schule unterrichtet, aber die Mehrheit der russischen Bevölkerung kann sich keinen Urlaub außerhalb des Heimatlandes leisten, ist unter den eigenen Landsleuten und wenn natürlich das Gelernte nicht ständig in Gebrauch ist, wird es schnell wieder vergessen! Dank Smartphone, den englischsprachig-mächtigen Kameramännern, Händen, Füßen und der Gesichtsmimik war die Kommunikation zwar sehr umständlich, spielte sich jedoch von Tag zu Tag besser ein. Am nächsten Tag wurde ich zu einem „Spender-Tag“ der Organisation empfangen, auf dem sich Menschen typisieren lassen konnten, Spenden gesammelt, Musik gespielt und Briefe von Spendern vorgelesen wurden. Ganz stolz präsentierte mich Kristina. Es gab ein Blitzlichtgewitter, Kamers auf uns gerichtet, mehrere Interviews, Händeschütteln und viele tolle, emotionale und herzergreifende Gespräche. In der darauffolgenden Woche führte mich Kristina und Dima durch ihr Moskau, zeigten mir die vielfältigsten Sehenswürdigkeiten und brachten mir ihre Heimat Russland näher. Schlittschuhlaufen im Gorki-Park, der größten Eislauffläche Europas, eine Wanderung durch das Auferstehungstor, über den Weihnachtsmarkt am Roten Platz und um den Kreml herum waren nur ein paar Dinge, die ich in dieser von Gegensätzen geprägten Stadt erleben durfte. Mit dem Auto fuhren wir für drei Tage ins 450 Kilometer entfernte Nizhny Novgorod, der Heimatstadt von Kristina, um ihre Familie zu treffen. Schwester Nastya, Vater Wladimir, Mutter Natasha, Oma Galina und Opa Slave empfingen mich unter Freudentränen mit einer Herzlichkeit und unglaublich, tiefgreifenden Dankbarkeit, wie man es sich gar nicht vorstellen kann. Und obwohl die Familie kein Wort Englisch konnte, verstand man sich doch blendend – mit der Sprache des Herzens. Und es war mir eine große Ehre mit der Familie um einen Tisch in der Küche zu sitzen, zu essen. Anschließend wurde ich sogar noch zu den Großeltern eingeladen und lernte ihre Wohnsituation kennen. Kristina wollte mir alles von ihrem Leben zeigen und so durfte ich in Nizhny ihre Kirche Umilenja, ihre alte Schule samt Schulfreunde und das Kinderkrankenhaus, in dem sie lag besuchen. Ich erhielt eine Führung im Kreml von Nizhny Novgorod und zum krönenden Abschluss wurde mir noch gezeigt, auf was die russische Bevölkerung besonders stolz ist: ihre Kosmonauten und das Planetarium.

Ich durfte viele unterschiedliche, junge und alte Menschen kennen lernen. Die Mehrheit der russischen Gesellschaft hat einen sehr einfachen Lebensstandard, besitzt nicht sehr viel materiellen Glanz, arbeitet verdammt hart für ihr Geld, ist sich für nichts zu schade und kann sich nur wenig leisten. Aber sie lebt mit einer Zufriedenheit, Wertschätzung, Liebe zur Familie und einem unglaublichen Vertrauen in Gott und Gottes Kraft, die einem die eigene Sicht auf das Leben verändern lässt. Überhaupt haben sich die geläufigen Vorurteile, der russischen Bevölkerung (und auch den russischen Männern) kein Stückchen bestätigt. Mit den vielen positiven Erlebnissen und Erfahrungen im Gepäck, reiste ich eine Woche später wieder in meine Heimat zurück, voller Vorfreude, dass auch Kristina und Dima mich und meine Familie bald besuchen werden. Und klappt alles mit den Visa ist es bald soweit! In den Herbstferien darf dann auch ich Kristina und ihrem Mann meine Heimat Deutschland, München und Passau zeigen, in der dann alles doch irgendwie viel kleiner und doch auch irgendwie größer ist.